L. Herzog: Smith, Hegel und die Politische Philosophie

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Title
Die Erfindung des Marktes. Smith, Hegel und die Politische Philosophie


Author(s)
Herzog, Lisa
Published
Darmstadt 2020: Wissenschaftliche Buchgesellschaft
Extent
288 S.
by
Andreas Burri

Die hier studierte Studie zu Hegels und Smiths sozio-ökonomischen Gedanken erklärt sich in ihrem Vorwort als interdisziplinäre Arbeit zum Begriff ‹Markt›: sie bewegt sich zwischen Philosophie, Ökonomie und Geschichte. Besonders sei dabei der ‹Markt› ein Begriff, der Interdisziplinarität erfordere (7–20). Wohl ist sich jede um aufrichtige Erkenntnis bemühte Person (vielleicht sogar im Akademischen) um die grundsätzliche Korrektheit dieser Ansicht bewusst sowie in der Bemühung um sie gebildet, und kennt (nun aber v. a. im Akademischen) dann auch die Wände, gegen die hier in der Regel angerannt wird. Die Leserschaft kann vielleicht daher auch zu dem Eindruck kommen, dass diese Studie sich tendenziell in einer tendenziös bedingten Defensive befindet. Damit stellt sich dann auch die Frage, ob sie nicht noch viel stärker ihren hier vermuteten Willen realisiert hätte, wäre an die Stelle dieser Defensive eine heiter freche Offensive getreten. Doch erst einmal betrachten wir die Arbeit, die die Autorin (wenn auch in der Defensive) geleistet hat und die in ihrem klar ersichtlichen Fleiße und in ihrer überzeugenden Aufrichtigkeit beeindruckend ist:
Eben erfordere der Begriff ‹Markt› Interdisziplinarität; er gehe – wie es unserer Gesellschaft wie vielleicht keiner vor ihr bewusst ist – tief ins Politische, Private und Existenzielle hinein. Z. B. macht die Studie mit Smith und Hegel darauf aufmerksam, wie verheerend Armut auch sozialen bzw. gesellschaftlichen Schaden anrichte, und nicht nur materieller Natur sei; sowie die Würde der Arbeit und des Berufs substantiell für die Identität des Individuums sei, was Hegel unterstrichen habe (22, 26, 140f., 176–178). Die philosophische Seite müsse besonders akzentuiert werden, weil Hegel wie Smith in ihren ökonomischen Gedanken stark von metaphysischen und theologischen Spekulationen beeinflusst seien. So geht die Studie intensiv auf Smiths optimistischen Deismus und dessen Einfluss auf seine liberale Ökonomie ein. Der ökonomischen Erforschung kam aufgrund solcher interpretatorischen Aspekte nicht zugute, dass v. a. in der angelsächsischen Philosophie der letzten Jahrzehnte Metaphysik ein nicht allzu hohes Ansehen genoss. Doch Smith und Hegel haben als Denker Anspruch auf ontologische Objektivität gehabt; sie können daher auch erst genügend interpretiert werden, wenn sie in diesem Anspruch ernst genommen werden bzw. die Interpretation selbst diesen Anspruch hege (32f., 37f., 54f.).
Dies grundgelegt, geht die Studie auf Smiths und Hegels philosophisch-politische Gedanken zum Markt ein und misst diese an den Problemen hiesiger Gesellschaft heutiger Zeit: beide Denker haben die Basis, dass Liberalität an sich substantieller Fortschritt der bürgerlichen Moderne sei. Die mannigfaltigen Gefahren, die mit Liberalität verbunden seien, werden bei Smith deistisch-optimistisch durch die Bahnen bürgerlicher Tugend reguliert, wobei z. B. die ganze Gesellschaft vom florierenden Reichtum profitiere, der sich in der natürlichen Logik des Marktes von selbst verteile. Hegel, hier pessimistischer, sehe hingegen eine staatliche Regulierung vonnöten, die – entgegen so mancher Hegel ins autoritäre Lager denken wollenden Interpretation – die negative Freiheit des Individuums nur insofern einschränken dürfe, als dies die positive Freiheit fördere. Die Studie stellt berechtigte Zusammenhänge zu gegenwärtigen Forschungen her, die z. B. zeigen, dass Smiths Optimismus dadurch widerlegt werde, dass soziale Diskriminierung trotz der dabei entstehenden wirtschaftlichen Einbuße betrieben werde. Wie Hegel ist der Studie ein zentrales Anliegen, auf die wesentliche Bedeutung der Bildung für die soziale, politische und ökonomische Stabilität hinzuweisen (105f., 158, 162, 165–167, 169f., 174f., 190, 196f., 199f., 222, 225f., 230f., 241–247).
Wie zu Beginn dieser Rezension angesprochen, kann bei der Lektüre nun der Eindruck aufkommen, dass die Studie zu sehr von einer Defensive her denkt – ich vermute gegenüber heutiger akademischer Verkrampftheit bei selbständiger Metaphysik – und infolge wiederholt v. a. metaphysischen Spekulationen aus dem Weg geht. So solle z. B. der für Hegels Philosophie so bedeutende Geist nicht christlich, sondern eher «metaphorisch zu verstehen» (87) sein, wobei der Studie gleichsam die Bedeutung des Christentums für Hegels Denken sowie die heute noch weilende Aktualität entsprechender Interpretationen bewusst zu sein scheinen, ebenso die religiöse Herkunft der Konzepte von Bildung bzw. Beruf. Auch weist sie auf geschichtsphilo-sophische bzw. -theologische Gedanken, z. B. zur Theodizee, bis hin zu generellen ontologischen Fundamenten bei Smiths und Hegels ökonomischen Systemen hin (87–89, 115–117, 130–134, 166f., 182, 223, 236f., 241–247). Es mag im Auftrag der grundsätzlichen Interdisziplinarität liegen, dass die Studie sich dabei nicht allzu sehr auf ebensolche Spekulationen – auch nicht zum für Smith und v. a. für Hegel so wichtigen Freiheitsbegriff – einlässt, sondern eher auf historisch-empirischer Relativierung besteht. Mit solcher Relativierung werde eingesehen, dass auch heutige und hiesige Gesellschaft wandlungsfähig sei, insofern sie von theoretischen Spekulationen geprägt wurde, die als solche nicht auf jede Zeit zugeschnitten seien (230, 234, 252). Aber befindet sich diese Studie damit nicht in einer Spannung zur angesprochenen interpretatorischen Substantialität gerade solcher metaphysischen Spekulationen, welche sie für Hegel und Smith festhält? Sollte sie konsequent also nicht auch selbst mit eigenen metaphysischen Objektivitäten aufkommen? Wäre es ferner dann aber im Zuge auch des empirischen Gegenwartsbezugs, der ja wesentlich legitim ist, erforderlich, konkrete politische Vorschläge herzudenken? Freilich geht die Studie auch auf ebensolche Lösungsvorschläge für den sozio-ökonomischen Horror heutiger Zeit ein, wie z. B. dass wir über einen Markt nachdenken müssen, der weniger das ganze Leben dominiere, damit weniger die ganze Politik ergreife, und so besser distanziert bzw. reguliert werden könne (255f.). Dennoch scheint es mir an konkreten praktischen Hinweisen auffallend zu fehlen. Welche Tür genau müssen wir hier und jetzt konkret eintreten, um der Ausbeutung von Mensch, Tier und Natur ein Ende zu bereiten? Wo anfangen, um das Leid zu enden? Wir suchen weiterhin nach Antworten – bis sie uns in den Rücken fallen. Wäre vielleicht nicht dennoch (gerade um des Konkreten willen) eine eigene intensive metaphysische Öffentlichkeitsarbeit anstelle einer reinen historischen Deskription ein Weg, das Bewusstsein der Gesellschaft so zum Absoluten hin zu ändern, dass wir die Antworten auf uns zukommen sehen, um ihnen begegnen zu können?
Die Studie überzeugt aber durch ihren wissenschaftlichen Fleiß: die Leserschaft merkt, dass hier langzeitig und intensiv v. a. zu Smith und seiner nicht im Geringsten erschöpften Bedeutung für die Formung, ja Reformierung unserer Ökonomie geforscht und dabei beachtenswert nüchtern gedacht wurde.

Zitierweise:
Burri, Andreas: Rezension zu: Herzog, Lisa: Die Erfindung des Marktes. Smith, Hegel und die Politische Philosophie, Darmstadt 2020 (Original: Inventing the Market. Smith, Hegel, and Political Theory, Oxford 2013),. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 115, 2021, S. 460-461. Online: <https://doi.org/10.24894/2673-3641.00100>

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